Ein Impuls von Niklas Sonderkamp
80 Jahre. Eine Zahl, die für mich kaum greifbar ist. Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa – ein Datum, das für Millionen Menschen den Zusammenbruch eines beispiellosen Gewaltsystems bedeutete. Für mich, einen jungen Menschen des Jahrgangs 1997, liegt das alles weit außerhalb meiner eigenen Lebenserfahrung. Ich habe keine Großeltern, die mir als Zeitzeugen davon erzählen könnten. Und doch lässt mich diese Geschichte nicht los.
Ich bin mit dem Satz aufgewachsen: „Nie wieder!“ In der Schule habe ich von den Verbrechen des Nationalsozialismus gehört, Gedenkstätten besucht, Dokumentationen gesehen. Ich habe gelernt, dass das Erinnern nicht aufhören darf. Und doch sehe ich heute: Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus sind nicht verschwunden. Hass ist nicht Geschichte. Krieg ist für viele Menschen auf der Welt bittere Gegenwart.
„Nie wieder, das ist jetzt.“ Dieser Satz fordert mich heraus. Er bedeutet: Es reicht nicht, an die Vergangenheit zu erinnern. Es geht um Verantwortung – jetzt, in unserer Gegenwart.
Ich glaube, dass Schuld nicht nur ein historisches Thema ist. Schuld hinterlässt Spuren und mahnt mich zur Wachsamkeit. Denn dieselben Mechanismen, die damals zu Verfolgung, Hass und Mord geführt haben, können heute wieder wirken – in neuen Formen, mit anderen Worten, aber mit demselben zerstörerischen Geist.
Wir erinnern heute an die unzähligen Opfer des Nationalsozialismus:
- an die ermordeten Jüdinnen und Juden,
- an Sintizze und Sinti, Romnja und Roma,
- an Menschen mit Behinderungen,
- an politisch Verfolgte,
- an homosexuelle und queere Menschen,
- an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter,
- an obdachlose und alkoholkranke Menschen,
- an Kriegsgefangene,
- an alle zivilen Opfer von Terror und Krieg,
- und an alle Frauen und Männer, die sich widersetzten und dafür litten oder starben.
Für mich ist das Gedenken auch eine Frage des Glaubens. Psalm 8 spricht davon:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, […], dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit.
Und im Artikel 1 des Grundgesetzes steht unmissverständlich:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Beide Sätze – aus der Bibel und aus dem Grundgesetz – sprechen von demselben Vertrauen: Der Mensch ist wertvoll. Jeder und jede. Ohne Ausnahme. Und deshalb hat niemand das Recht, andere zu erniedrigen, zu verfolgen, auszugrenzen oder zu vernichten.
Aber manchmal habe ich Angst: Wenn Stimmen laut werden, die Hass säen. Wenn Menschenrechte in Frage gestellt werden. Wenn es unbequem wird, dagegen aufzustehen.
Dann brauche ich Bilder, die mir Mut machen. Eines dieser Bilder hängt in meinem Kopf: Banksys Friedenstaube in Bethlehem. Sie ist weiß, trägt einen Olivenzweig im Schnabel – und eine kugelsichere Weste. Ein rotes Fadenkreuz zielt auf ihr Herz.
Ein Bild, das wehtut – und das zugleich Hoffnung macht.
Denn es sagt:
Frieden ist möglich – aber verletzlich.
Frieden ist ein Wagnis.
Frieden braucht Schutz, Mut, und klare Haltung.
Diese Taube erinnert mich an die biblische Hoffnung: dass Gottes Geist über dem Chaos schwebt. Dass nach der Flut neues Leben möglich ist. Und dass Gott uns Menschen zutraut, Friedensstifter und Friedensstifterinnen zu sein. Trotz aller Bedrohung.